Meinungsbeitrag
Die USA stehen unter Donald Trump scheinbar vor einem grundlegenden Wandel – einem Rückzug aus ihrer liberalen, wissenschafts- und weltoffenen Führungsrolle. Was aus europäischer Sicht lange wie ein Worst Case wirkte, könnte sich als seltene historische Gelegenheit entpuppen: Deutschland und Europa könnten massiv von dieser Entwicklung profitieren. Doch dafür müsste unsere politische Führung endlich den Mut zu richtigen, strategisch klugen Entscheidungen aufbringen. Auch dafür wurde sie gewählt. Noch ist es ein Konjunktiv.
In Harvard, dem Symbol für Amerikas wissenschaftlichen Glanz, tobt ein offener Kulturkampf: Trumps Regierung will internationalen Studierenden die Visa verweigern. Die Universität wehrt sich, Demonstrationen prägen den Campus, die Forschung leidet. Dieser Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer umfassenden Ideologisierung und Nationalisierung. Trumps Bewegung sieht in „woken“, liberalen Hochschulen Feinde – nicht Partner im Fortschritt. Forschungsgelder werden gekürzt, Universitäten sollen mit Steuern belegt werden, ausländische Talente werden abgeschreckt.
Diese Entwicklung trifft den Kern amerikanischer Stärke: Innovation, Internationalität, Talent. Silicon Valley, einst Magnet für die klügsten Köpfe der Welt, spürt bereits die Folgen. Internationale Studenten und Forscher werden von Unsicherheit abgeschreckt. Unternehmen wie Meta und Apple geraten politisch unter Druck. Die technologische Führungsrolle der USA ist nicht verschwunden, aber erstmals seit Jahrzehnten sichtbar unter Druck.
Europa – der neue Sehnsuchtsort?
Für Europa öffnet sich damit ein Fenster: Selten waren die strategischen Voraussetzungen so günstig, um Kapital, Talente und geopolitisches Gewicht zu gewinnen. Investoren beginnen bereits, Kapital aus den USA abzuziehen. Deutsche Aktien und Anleihen werden attraktiver. Wissenschaftler, die bisher die USA wählten, fragen nach Perspektiven in Europa. Handelspolitisch öffnen sich neue Türen: Mercosur, Malaysia, Indien – Länder, die sich von der amerikanischen Willkür abwenden und Verlässlichkeit suchen.
Aber damit aus Möglichkeiten Realität wird, braucht Europa mehr als bloßes Zuwarten. Es braucht eine entschlossene, handlungsfähige Politik, die das Momentum nutzt – und sich nicht in Sonntagsreden und Bürokratie verliert. Was also müsste konkret geschehen?
Erstens: Wissenschaftsstandort stärken – beherzt, nicht bürokratisch
Die USA waren jahrzehntelang die erste Adresse für internationale Spitzenforscher. Wenn sie es nicht mehr sind, muss Europa – und insbesondere Deutschland – in diese Lücke springen. Doch dazu braucht es mehr als schöne Imagekampagnen und Klientelpolitik.
Statt überbordender Verwaltung, unflexibler Beamtenlaufbahnen und mangelnder unternehmerischer Kultur brauchen Universitäten Freiräume und Finanzierung. Lehrdeputate müssen gesenkt, Start-up-Gründungen aus der Wissenschaft aktiv gefördert werden. Dinge wie strukturierte Promotionsprogramme und transparente Karrierewege für ausländische Forscher müssen Normalität sein, nicht Ausnahme. Deutschland bietet 400.000 ausländischen Studenten einen Platz – jetzt muss daraus auch ein Bleibeperspektive werden.
Zweitens: Kapital nach Europa holen – und richtig investieren
Der Vertrauensverlust in den Dollar als Leitwährung und die unsichere Finanzpolitik Trumps setzen den USA zu. Europa kann profitieren – wenn es seine Standortnachteile überwindet. Das bedeutet: Steuerliche Anreize für Investoren und Start-ups, Förderung von Wagniskapital und konsequenter Bürokratieabbau.
Dass deutsche Aktien derzeit für US-Investoren wieder interessant sind, ist ein Hoffnungsschimmer. Doch dieser Trend kann schnell verpuffen, wenn Deutschland nicht gleichzeitig Innovation und Wachstum fördert. Das Infrastrukturprogramm der Bundesregierung darf nicht im Klein-Klein versickern – es muss gezielt in Zukunftstechnologien, Digitalisierung und Bildung fließen.
Drittens: Digitalisierung und Technologiestandort voranbringen
Die Abhängigkeit Europas von US-Hyperscalern wie Amazon, Google und Microsoft ist ein strukturelles Risiko. Wenn Europa seine digitale Souveränität ernst meint, muss es eigene Cloud-Infrastrukturen aufbauen, KI-Standorte fördern und Start-ups groß machen.
Derzeit stammt nahezu jede große KI-Entwicklung aus den USA – obwohl viele Talente aus Europa kommen. Der Exodus von Start-ups wie DeepMind oder Stability AI zeigt, dass Europa die Talente zwar hervorbringt, sie aber nicht halten kann. Das muss sich ändern. Staatliche Förderung, Zugang zu Risikokapital, schnellere Genehmigungen – hier liegt der Schlüssel.
Viertens: Handelspolitisch unabhängiger und aktiver werden
Trumps Zollpolitik trifft vor allem exportorientierte Länder wie Deutschland hart. Gleichzeitig aber öffnet sie Türen für neue Allianzen. Das Mercosur-Abkommen, jahrelang blockiert, steht vor der Ratifizierung. Neue Abkommen mit Thailand, Malaysia, den Emiraten und Indien sind in Reichweite.
Europa muss jetzt geopolitisch aktiv sein. Die Zeiten, in denen sich die EU auf die wirtschaftliche Dominanz der USA stützte, sind vorbei. Wer neue Märkte erschließen, Abhängigkeiten verringern und globale Standards setzen will, muss schnell und entschlossen verhandeln.
Fünftens: Den “War for Talent” gewinnen
Was bisher Amerikas Vorteil war – die besten Köpfe der Welt – könnte bald Europas Chance sein. Dazu braucht es gezielte Programme zur Anwerbung internationaler Talente, Erleichterungen beim Aufenthaltsrecht, Willkommenskultur – und ein Gesellschaftsbild, das Vielfalt als Stärke begreift.
Einige deutsche Politiker (meist der CDU) erkennen natürlich die Zeichen der Zeit: Wenn amerikanische Unis Talente verlieren, kann Deutschland sie gewinnen. Programme wie der „Harvard-MIT-Track“, bei dem US-Studierende durch deutsche Forschungseinrichtungen reisen, sind ein Anfang – sie müssen strategisch ausgebaut werden.
Und Berlin?
Die neue schwarz-rote Koalition verspricht Entschlossenheit, aber liefert bisher nur irrelevantes Stückwerk: Gastronomie-Steuersenkung, Agrardieselförderung, Pendlerpauschale. Die großen Visionen – eine europäische Digitalunion, eine Reform des Forschungsstandorts, ein ambitioniertes Investitionsprogramm – fehlen bisher komplett.
Stattdessen verweist man auf Europa. Dort sei Verantwortung gefragt, dort liege die Zukunft. Aber ohne eine aktive deutsche Rolle wird es kein starkes Europa geben. Wer Investoren, Forscher, Gründer und Partner gewinnen will, muss vorangehen – mit klarer Führung, nicht mit Koalitionskompromissen.
Trumps Politik ist eine echte Herausforderung – aber sie ist auch eine historische Gelegenheit. Europa kann wirtschaftlich, wissenschaftlich und geopolitisch aufsteigen – wenn es mutig ist. Wenn es den Mut findet, zu investieren, sich zu öffnen und sich neu zu erfinden.