Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und die Finanzpolitiken der Nationalstaaten der EU waren ursprünglich strikt getrennt. Doch seit der Finanz- und Schuldenkrise kaufen die nationalen Zentralbanken und die EZB in großem Umfang Staatsanleihen, einschließlich supranationaler Anleihen. Diese Entwicklung könnte zu einer graduellen Transformation führen, bei der die EZB die EU dauerhaft über den Ankauf von EU-Anleihen finanziert.

Historischer Kontext und Wandel

Beim Start des Euros 1999 war das System auf eine klare institutionelle Trennung ausgelegt: Die EZB war unabhängig und dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet, während die Verantwortung für die Finanzpolitiken bei den Nationalstaaten verblieb. Die EU selbst durfte keine Steuern erheben und keine eigenen Schulden machen, was ihren Einfluss begrenzte. Die nationalen Zentralbanken setzten die Entscheidungen des EZB-Rates um, was den Einfluss der EZB und der nationalen Regierungen einschränkte und eine Vergemeinschaftung von Risiken verhinderte.

Mit der europäischen Finanz- und Schuldenkrise änderte sich dies jedoch. Angesichts einer drohenden Staatsschuldenkrise beschloss der EZB-Rat 2010 das Securities Market Programm (SMP), um Staatsanleihen von Krisenstaaten zu kaufen. Dies markierte den Beginn einer Ära, in der die EZB zunehmend in die Finanzierung von Staatsausgaben involviert wurde. Das Anleihekaufprogramm APP von 2015 weitete diesen Ansatz aus, indem es den Kauf von Staatsanleihen aller Eurostaaten umfasste. Das Pandemische Notfallkaufprogramm (PEPP) von 2020 ermöglichte sogar Abweichungen vom Kapitalschlüssel, um flexibel auf die wirtschaftlichen Herausforderungen der Pandemie zu reagieren.

Die Rolle der EZB in der Schuldenkrise

Zunächst schien vorgesehen, dass sich das Eurosystem nach den Ausnahmesituationen der Schulden- und Coronakrise wieder von seinen Anleihebeständen trennen würde. Doch im März 2024 beschloss der EZB-Rat, dass das Eurosystem langfristig ein strukturelles Wertpapier-Portfolio halten wird. Dies deutet auf dauerhafte Staatsanleihekäufe hin, was eine signifikante Abkehr von der ursprünglichen Geldpolitik der EZB darstellt.

Das Volumen der von der EZB gehaltenen Anleihen erreichte im Juni 2022 mit rund 4.000 Milliarden Euro einen Höhepunkt. Programme wie das SMP und APP ermöglichten es der EZB, in größerem Umfang Anleihen auf eigene Rechnung zu kaufen. Der Bestand aller Anleihen in der Bilanz der EZB stieg auf derzeit 440 Milliarden Euro, was knapp 9 % der Anleihebestände des Eurosystems entspricht. Ein Großteil dieser Bestände sind Staatsanleihen, was die zunehmende Verflechtung der EZB mit der Staatsfinanzierung zeigt.

Dauerhafte EU-Schulden und ihre Auswirkungen

Die Emission von Staatsanleihen in der EU war lange Zeit das Privileg der Nationalstaaten, die nach den Maastricht-Kriterien der Schuldenkontrolle durch die EU unterlagen. Doch bereits in der europäischen Finanz- und Schuldenkrise wurden sogenannte Euro-Bonds gefordert. Diese wurden jedoch von der deutschen Bundesregierung blockiert. In der Coronakrise erhielt die EU schließlich die Erlaubnis für eigene Anleihen, die als Corona-Bonds bezeichnet wurden. Diese finanzieren den Aufbaufonds „NextGenerationEU“, der Kredite und Zuwendungen in Höhe von 809 Milliarden Euro an alle EU-Staaten verteilt. Besonders profitieren hochverschuldete Länder wie Italien, Spanien und Griechenland, deren Staatsbankrott den Euro bedrohen würde.

Obwohl die NextGenerationEU-Schulden als zeitlich begrenzte Ausnahme beschlossen wurden, werden bereits neue Anlässe für eine Neuauflage diskutiert. Beispielsweise hat der EU-Ratspräsident Charles Michel auf dem EU-Gipfel im März 2024 eine gemeinsame Verteidigungsanleihe ins Spiel gebracht. Außerdem plant die EU, zwischen 2024 und 2027 Anleihen im Umfang von 33 Milliarden Euro für Ukraine-Hilfen auszugeben. Diese Entwicklung zeigt, dass EU-Anleihen in Zeiten knapper Kassen aus Sicht der Nationalstaaten attraktiv sind, da sie nicht auf die nationalen Maastricht-Verschuldungsgrenzen angerechnet werden.

EZB-finanzierte EU-Schuldenpolitik

Die Emission der EU-Anleihen war bisher nur zu vergleichsweise hohen Zinsen möglich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte deshalb zusätzliches Geld von den Nationalstaaten, jedoch ohne Erfolg. Das Zinsproblem könnte gelöst werden, wenn das Eurosystem in größerem Umfang EU-Anleihen kauft und so die Zinsen auf diese Anleihen drückt.

Grundsätzlich ist dies möglich, da die EZB neben Anleihen der Europäischen Investitionsbank und des Krisenstabilisierungsfonds ESM auch EU-Anleihen auf ihrer Liste ankauffähiger Wertpapiere führt. Der Anteil der Anleihen der EZB an den Ankaufprogrammen PSPP und PEPP sowie der Anteil supranationaler Anleihen an diesen Programmen ist bei 10 % festgelegt. Die nationalen Zentralbanken erwerben ebenfalls supranationale Anleihen. Beispielsweise kaufen die Zentralbanken von Estland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Spanien und Slowenien solche Anleihen. Der Bestand supranationaler Anleihen des Eurosystems liegt derzeit bei ca. 420 Milliarden Euro.

Perspektiven und Herausforderungen

Es scheint, als ob die EU schrittweise den Weg zu zentralbankfinanzierten Staatsausgaben beschreitet. Zwar kann die EU immer noch keine Steuern erheben, doch könnte sie bald dauerhaft Anleihen ausgeben, die von der EZB erworben werden. Dies würde die finanzielle Schlagkraft der EU relativ zu den Nationalstaaten erhöhen und die EU könnte widerstrebende Mitgliedsstaaten leichter beeinflussen. Die EU könnte die neuen Ausgabenspielräume nutzen, um wirtschaftliche Diskrepanzen innerhalb des Euroraums zu überbrücken, wie es beim Aufbaufonds „NextGenerationEU“ der Fall ist.

Allerdings sind die langfristigen Auswirkungen dieser Politik auf Wachstum und Verteilung innerhalb der EU fraglich. Zentralbankfinanzierte Staatsausgaben haben potenziell negative Effekte, die die Zentrifugalkräfte in der EU eher verstärken könnten. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein schuldenfinanzierter EU-Superstaat der kulturellen und wirtschaftlichen Heterogenität in der EU gerecht werden kann.

Hier finden Sie einen Link zum Originalbeitrag auf der Website von “Flossbach von Storch”.